Doppeltes Sehen: Die Dynamik des Expressionismus in Deutschland und Österreich

Doppeltes Sehen: Die Dynamik des Expressionismus in Deutschland und Österreich

Olimpia Gaia Martinelli | 28.05.2024 9 Minuten Lesezeit 0 Kommentare
 

Ein Vergleich des deutschen und österreichischen Expressionismus, zwei Bewegungen, die trotz ihrer Entstehung in ähnlichen Kontexten einzigartige und unverwechselbare Nuancen aufweisen. Der Expressionismus, bekannt für seine tiefgründige Erforschung des menschlichen Daseins und die Darstellung intensiver Emotionen, fand tatsächlich sowohl in Deutschland als auch in Österreich fruchtbaren Boden ...

VIBRANT SUNRISE (STRETCHED) (2024)Gemälde von Nadiia Antoniuk

Warum Expressionismus? Eine Brücke zwischen den Kunstkulturen Deutschlands und Österreichs

Zu den bedeutendsten Kunstbewegungen, die sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich stark entwickelten, zählen der Expressionismus, das Bauhaus und die Wiener Secession. Ein Vergleich des deutschen und österreichischen Expressionismus ist einfacher als ein Vergleich des Bauhauses mit der Wiener Secession. Tatsächlich war der Expressionismus sowohl in Deutschland als auch in Österreich weit verbreitet und prägte die Kunst stark. Er umfasste eine beträchtliche Anzahl von Künstlern und Werken, die parallel analysiert werden können. Diese Bewegung drückte sich in verschiedenen Kunstformen wie Malerei, Bildhauerei und grafischer Kunst aus. In beiden Ländern verfolgten expressionistische Künstler ähnliche Ziele, wie die Erforschung der menschlichen Existenz und den Ausdruck innerer Emotionen, wenn auch mit lokalen und persönlichen Nuancen. Dann wird deutlich, dass der Expressionismus eine breitere gemeinsame Grundlage für einen Vergleich zwischen Deutschland und Österreich bietet, während das Bauhaus und die Wiener Secession, die sich stärker in ihren Absichten, historischen Kontexten und zugrunde liegenden Philosophien unterscheiden, die Aufgabe mühsamer und komplexer machen würden.

MISIFUX (2024)Gedruckt von Eva Hidalgo

Farben voller Gefühle: Expressionismus verstehen

Der Expressionismus, eine Kunstbewegung, die in mehreren Städten Deutschlands entstand, entstand als Reaktion auf die wachsende Angst vor der zunehmend disharmonischen Beziehung der Menschheit zur Welt und dem Verlust des Gefühls von Authentizität und Spiritualität. Der Expressionismus entstand teilweise als Reaktion auf den Impressionismus und die akademische Kunst und ließ sich stark von den symbolistischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts inspirieren. Künstler wie Vincent van Gogh, Edvard Munch und James Ensor beeinflussten die Expressionisten mit ihrer Vorliebe für verzerrte Formen und die Verwendung intensiver Farben zutiefst und ermöglichten ihnen, eine Vielzahl von Ängsten und Wünschen auszudrücken.

Gerade der Aufschwung des Expressionismus brachte neue Maßstäbe in der Schaffung und Beurteilung von Kunst. Letztere sollten aus dem Inneren des Künstlers kommen und nicht aus der Darstellung der äußeren visuellen Welt, und das Kriterium für die Bewertung der Qualität eines Kunstwerks wurde der Charakter der Gefühle des Künstlers und nicht eine Analyse der Komposition. Expressionistische Künstler verwendeten bei der Darstellung ihrer Motive oft wirbelnde, wellenförmige und „übertrieben“ ausgeführte Pinselstriche. Diese Techniken sollten ihren turbulenten Gefühlszustand als Reaktion auf die Ängste der modernen Welt vermitteln.

Der oben beschriebene künstlerische Ansatz ist auch als mächtiges Instrument der Gesellschaftskritik zu verstehen. In der Darstellung der modernen Stadt werden häufig entfremdete oder verzweifelte Individuen dargestellt - ein psychologisches Nebenprodukt der jüngsten Urbanisierung - und diese werden genutzt, um die Rolle des Kapitalismus bei der emotionalen Distanzierung von Individuen in städtischen Kontexten zu kommentieren.

Der Expressionismus revolutionierte also nicht nur künstlerische und visuelle Ansätze, sondern bot auch tiefgründige Denkanstöße über die Welt und verdeutlichte die Spannungen und Widersprüche des modernen Lebens.

Abschließend ist es aus chronologischer Sicht wichtig, hervorzuheben, wie sich die klassische Phase der expressionistischen Bewegung, die ungefähr von 1905 bis 1920 dauerte, in ganz Europa ausbreitete und anschließend viele Einzelpersonen und Gruppen beeinflusste, darunter den Abstrakten Expressionismus, den Neoexpressionismus und die London School. Was die zeitgenössische Welt betrifft, so ist der Expressionismus durch seine intensive Bildsprache und seine Fähigkeit zum emotionalen Ausdruck weiterhin eine starke Stimme im heutigen figurativen Dialog.

KAZUMI TAUPE - FRAU IN GRÜN, OCKER, SCHWARZ ERNST (2022)Gemälde von Carolyn Mielke (karographisch)

Deutscher Expressionismus: Ursprünge, Entwicklung und Merkmale einer revolutionären Bewegung

Der deutsche Expressionismus hat seine Wurzeln im frühen 20. Jahrhundert und hat mit zwei seiner Hauptgruppen, „Die Brücke“ und „Der Blaue Reiter“, die Kunstlandschaft nachhaltig geprägt.

Die 1905 in Dresden gegründete Gruppe „Die Brücke“ wollte die klassische neoromantische Malerei mit neuen Ausdrucksformen verbinden, die später mit dem Expressionismus in Verbindung gebracht wurden. Die Mitglieder der Brücke strebten nach einer authentischeren und intensiveren Kunst, die die Einsamkeit, Entfremdung und Spannungen des modernen Lebens widerspiegelte. Sie verwendeten kräftige grafische Linien und lebendige, gesättigte Farben, um ihre inneren Visionen auszudrücken, und konzentrierten ihre Werke oft auf dynamische, emotional aufgeladene Stadtszenen. Die wichtigsten Vertreter der Brücke waren Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Fritz Bleyl, Emil Nolde und Max Pechstein.

1911 wurde in München der von Wassily Kandinsky und Franz Marc gegründete Blaue Reiter gegründet. Diese Gruppe zeichnete sich durch eine abstraktere und spirituellere Herangehensweise an die Kunst aus. Der Blaue Reiter konzentrierte sich weniger auf die Darstellung der äußeren Realität als vielmehr auf den Ausdruck spiritueller und innerer Dynamiken. Diese Bewegung legte weniger Wert auf soziale Spannungen als vielmehr auf universelle Harmonie und erforschte den Einsatz von Farbe und Form, um reine und tiefe Emotionen auszudrücken.

Während Die Brücke eine rohe und direkte Darstellung der menschlichen Erfahrung betonte, die von scharfsinniger und manchmal brutaler Gesellschaftskritik geprägt war, neigte Der Blaue Reiter zu einer eher lyrischen und abstrakten Sicht der Existenz, die oft losgelöst von der direkten Darstellung der materiellen Welt war. Der Blaue Reiters Herangehensweise an den Abstraktionismus legte den Grundstein für zukünftige künstlerische Strömungen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten.

Glauben Sie, ich hätte Meister wie Otto Dix vergessen? Nach dem Krieg entwickelte sich der Expressionismus zu einem äußerst realistischen Stil, der sich durch beispiellose Härte auszeichnete, begleitet von Brutalität und schockierenden Darstellungen. Diese Eigenschaften finden sich genau in der Kunst von Otto Dix sowie in den Werken von Max Beckmann und George Grosz.

STILLLEBEN (2018)Gemälde von Borys Buryak

Österreichischer Expressionismus: Geschichte, Merkmale und Vertreter

Der österreichische Expressionismus entstand um 1909–1910 in Wien. Schlüsselfiguren wie Oskar Kokoschka und Egon Schiele stießen die Malerei durch sehr persönliche Porträts an neue emotionale Grenzen. Die Bewegung endete tragisch aufgrund der Verwüstungen des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe, die Europa heimsuchte und zum vorzeitigen Tod von Meistern wie Gustav Klimt und Schiele selbst führte. Diese Zeit intensiver künstlerischer Kreativität wurde außerdem durch den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und die tiefen politischen Unsicherheiten der Zeit geprägt.

Der Wiener Expressionismus zeichnet sich durch seine intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur aus, wobei der Körper als Vehikel für die Darstellung extremer Emotionen dient, die oft in bestimmten Gefühlen und Stimmungen verankert sind. In einem Kontext, in dem abstrakte Bewegungen die Kunstszene dominierten, entdeckten diese Künstler die Bedeutung der Motive wieder und verwendeten kräftige Pinselstriche und dynamische Formen, um ihren Werken „Ausdruck“ zu verleihen.

Ernst Ludwig Kirchner, Marzella, 1909 - 1910. Öl auf Leinwand, 76×60 cm. Museet, Stockholm.

Egon Schiele, Zwei kleine Mädchen, 1911.

Vergleich von Ernst Ludwig Kirchners „Marzella“ und Egon Schieles „Zwei kleine Mädchen“

Die Werke „Marzella“ von Ernst Ludwig Kirchner und „Zwei kleine Mädchen“ von Egon Schiele veranschaulichen trotz ihrer Wurzeln im Expressionismus unterschiedliche und persönliche Ansätze in der Darstellung der Jugend.

„Marzella“ entstand zwischen 1909 und 1910 und zeigt eine mutige Auseinandersetzung mit dem weiblichen Porträt. Kirchner verwendet knallige Farben wie Grün und Orange und erzeugt damit einen visuellen Kontrast, der stark von der typischen Gelassenheit von Jugendporträts abweicht. Das Motiv, ein nacktes Mädchen, sitzt mit über dem Schambein verschränkten Händen da, eine Geste, die an Edvard Munchs „Pubertät“ erinnert, jedoch eine viel schelmischere und selbstbewusstere Haltung zeigt. Die durch Kissen und Dekorationsgegenstände aufgewertete Kulisse sowie die Verwendung heller Farben und „verzerrter“ Formen tragen zu einer Atmosphäre dekadenten Luxus bei. Kirchner drückt in diesem Gemälde eine Kritik an der Heuchelei und Korruption der zeitgenössischen Gesellschaft aus und spiegelt die Rastlosigkeit des modernen Menschen wider.

Andererseits drückt „Zwei kleine Mädchen“ von 1911 Schieles tiefes Interesse an der kindlichen Psyche und Unschuld aus, wobei er seine Motive mit einem Gefühl von introspektivem Realismus und Verletzlichkeit behandelt. Schiele, der sich selbst als „ewiges Kind“ bezeichnete, fängt die emotionale Komplexität des Erwachsenwerdens durch seine jungen Modelle ein, die er mit einem krassen, aber oft keuschen Figurativismus porträtiert. Die beiden Mädchen, die in natürlichen, entspannten Posen dargestellt sind, drücken eine Ruhe und Spontaneität aus, die im Gegensatz zu der emotionalen Intensität stehen, die für Schieles Werke typisch ist, sowie zu der Enthemmung, die in „Marzella“ teilweise spürbar ist.

2 (2019)Gemälde von Ramadan Hussien

SITZENDE IM GRÜNEN KLEID (2020)Zeichnung von Barbara Kroll

Deutscher und zeitgenössischer österreichischer Expressionismus: Weibliche Motive im Vergleich

„2“ von Ramadan Hussien und „Sitzende im grünen Kleid“ von Barbara Kroll sind zwei Kunstwerke von in Österreich und Deutschland tätigen Künstlern, die einzigartige und zutiefst persönliche Perspektiven auf die weibliche Figur bieten und dabei gleichzeitig eine tiefe Verbindung zur expressionistischen Tradition wahren.

Das Werk von Ramadan Hussien, einem in Österreich lebenden syrischen Künstler, wurde mit Acryl- und Kohlefarben auf Leinwand erstellt, um ein „polychromatisches“ Bild zu schaffen, das die emotionale Essenz und Komplexität des weiblichen Motivs einfangen soll. Die hellen Farben und „verzerrten“ Formen werden gezielt eingesetzt, um intensive Gefühle auszudrücken, die wahrscheinlich auf den Geisteszustand der inneren Qual der Figur anspielen. Um den letztgenannten Aspekt wiederzugeben, kombinierte Hussien auch teilweise abstrakte Details mit figurativen Elementen und brachte so eine tiefe Innerlichkeit zum Vorschein, die über die bloße visuelle Darstellung hinausgeht. Schließlich verleihen die vorherrschenden Grün-, Blau- und Rosatöne, die auf fließende und dynamische Weise miteinander verschmelzen, der introspektiven Komposition Energie und Bewegung.

Die deutsche Künstlerin Barbara Kroll hingegen verfolgt in ihrem Werk „Sitzende im grünen Kleid“ einen eher „nackten“ und „minimalistischen“ Ansatz, bei dem der weiße Bildträger unter dem dicken Strich hervortritt und eine weitere weibliche Form erzeugen soll. Letzteres entstand durch eine Kombination aus Conté, Acryl auf Papier und gemischten Medien, mit denen Kroll die Verletzlichkeit und Reflexivität ihres Motivs erforschte, das manchmal von verschwommenen Linien durchzogen ist. In Bezug auf die Verwendung von Farben erweist sich die Deutsche jedoch erneut als zurückhaltender und synthetischer als ihre österreichische Kollegin, da sie nur Blau, Grün und Rot verwendet, die entweder in Linien oder in Hintergründen verteilt sind.

Dann wird deutlich, dass, obwohl beide Werke eine intensive Auseinandersetzung mit dem menschlichen Ausdruck und der visuellen Sprache zeigen, Hussien helle Farben und kräftige Formen einsetzt, um eine stärkere emotionale Bewegung zu vermitteln, während Kroll eine schmalere Palette und fließende Linien verwendet, um eine vorherrschende introspektive Stille hervorzurufen.

NUDE 2 (2019)Gemälde von Borys Buryak

DIE GELBE BLUME (2022)Gemälde von Victoria Cozmolici

Zwei weitere expressionistische Werke, die sich mit einem weiblichen Thema befassen, sind „Nude 2“ von Borys Buryak und „The Yellow Flower“ von Victoria Cozmolici. Ausgehend von Borys Buryak hat der in Österreich lebende Künstler eine stehende nackte weibliche Figur geschaffen, die eine sinnliche Lyrik zum Leben erwecken soll, die mit einer intimen Atmosphäre mit einem sehr introspektiven Anstrich kombiniert wird. Tatsächlich dreht uns die schöne nackte Frau gerade in der Sinnlichkeit eines schwach beleuchteten Innenraums fast den Rücken zu und hebt ihre Hände, als hätte sie vor dem Fenster etwas Interessantes gesehen, das wahrscheinlich den Dramen ihres einsamen Herzens ähnelt oder diese heilt.

Die in Deutschland lebende Malerin Victoria Cozmolici hat „Die gelbe Blume“ geschaffen, ein Werk, das eine sitzende nackte weibliche Figur darstellt. Die emotionale Intensität des Motivs wird nun nicht durch Halbschatten wiedergegeben, sondern im Gegenteil durch eine lebhafte Palette und energische Pinselstriche. Letztere verleihen einer Figur Form, die von Blau-, Gelb-, Grün- und Brauntönen umgeben ist, die kombiniert werden, um figurative Elemente sowie abstrakte wie Gedanken hervorzubringen.

Schließlich wird deutlich, wie verwandte Seelenregungen in den beiden Gemälden auf unterschiedliche Weise wiedergegeben werden, was uns zum Nachdenken darüber anregt, wie uns der Gedankenfluss in jedem beliebigen Kontext erreichen kann …

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